05.07.2025

Bank der Generationen

Marie Winnefeld

„Es geschah 1697, dass Lingen im Heberegister der Abtei Werden erstmals erwähnt wurde“, murmelt Finn vor sich hin. „Danach übertrug Kaiser Otto II im Jahr 975 …“

Er stutzt. „Hölle, nein!“ Hektisch scrollt er im Dokument auf seinem Laptop herum. Seine Augen fliegen über den Text. „Das kann doch nicht sein!“

Mit beiden Händen fährt er sich durch seine schulterlangen Haare und bindet sie zu einem Zopf zusammen. Dabei sieht er eine Frau auf einem Fahrrad, die direkt auf seine Bank zusteuert. „Das fehlt mir jetzt noch! Hoffentlich fährt die weiter.“

Doch während er angestrengt auf seinen Laptop starrt und ver­sucht, möglichst nicht einladend zu gucken, stellt die ältere Frau ihr Fahrrad am Wegesrand ab. Sie zieht einen Beutel aus der Fahrrad­tasche und geht lächelnd auf ihn zu.

„Ist hier noch ein Plätzchen frei?“

„Mhm“, antwortet Finn kurz angebunden. Die könnte locker meine Oma sein, schätzt er.

„Na, das ist doch heute mal ein feines Wetterchen. Für Ende März kann man da nicht meckern“, sagt sie.

Finn schweigt und versucht, sich wieder auf den Text zu konzentrieren. Wäre ich bloß nach Hause gefahren, denkt er. Aber dort kann er nie in Ruhe lernen, weil seine beiden jüngeren Schwes­tern nerven. Immer wollen sie irgendwas von ihm:

Lieber großer Bruder, mein Smartphone geht nicht mehr an, kannst du mal … Gehst du mit mir zur Eisdiele?

Er wischt die Gedanken weg und hämmert auf die Tastatur ein.

Die Frau packt in aller Seelenruhe eine Kanne mit Kaffee, Brote und eine Tupperdose aus.

„Ich weiß ja nicht, was der Laptop dir getan hat, aber gut ist das nicht, wie du ihn behandelst“, sagt sie mit einem süffi­santen Lächeln.

„Ich muss gleich in der siebten Stunde ein Referat halten“, ant­wortet Finn genervt. „Gibt’s hier keine andere Bank an der Ems, auf der Sie ihre Brote essen können?“

„Junger Mann, nun aber mal Luft anhalten. Auf genau dieser Bank hier sitze ich bei schönem Wetter nahezu jeden Tag zur Mittagszeit, esse meine Brote und trinke in Ruhe einen Kaffee. Die treffendere Frage ist deshalb, was du auf meiner Bank zu suchen hast?“ Trotz der scharfen Worte lächelt sie ihn freundlich an.

„Pfff“, macht er.

„Ja, pfff“, entgegnet die Frau.

Beide schweigen.

„Äpfelchen?“ Sie hält ihm eine Dose mit akkurat geschnittenen Stückchen hin.

„Ja, danke“, antwortet er versöhnlicher und nimmt ein Stück.

„Geht doch!“

Er kaut auf dem Apfelstück herum, als ob es zitronensauer wäre. Gleichzeitig zieht er sein Smartphone aus der Tasche und tippt hektisch etwas ein.

„Durch Daddeln auf dem Handy wird das Referat aber auch nicht fertig“, merkt die Frau an.

„Ja, weiß ich auch.“

„Mhm. Übersprungshandlung?“

„Was? Keine Ahnung. Ich versuche rauszufinden, wie man dieses komische Wort hier ausspricht. Bei Google find ich aber nix.“

Die Frau schaut auf den Laptop. „Siehst du schlecht? Oder warum ist die Schrift so groß?“

„Hab meine Brille in der Schule liegen gelassen.“

„Ah, verstehe. Also Finn, falls du das markierte Wort da meinst, welches germanisch ist und übersetzt so viel wie Ems-Männer heißt, das spricht man so aus, wie man es schreibt.“

„Woher wissen Sie meinen Namen?“

„Steht da oben auf der Seite.“ Die Frau zeigt mit einem Finger auf die entsprechende Stelle.

„Ach, ja klar. Also, Sie meinen man spricht das Amp- si- va -ri- er aus?“

„Ja. Ich heiße übrigens Jutta und muss nicht gesiezt werden.“

„Cool!“

Finn löscht die Markierung des Wortes Ampsivarier und vermerkt dahinter: Einfach so aussprechen.

„Ich möchte dich nicht durcheinanderbringen, aber ich glaube, ein paar Sachen stimmen in deinem Referat nicht.“

Genervt verzieht Finn den Mund. „Hab ich auch schon gemerkt. Geschichte interessiert mich echt null. Abi mache ich erst im näch­sten Jahr, aber ich muss unbedingt ein Zeugnis mit einem Schnitt von 2,0 hinbWiekommen. Wenn ich das schaffe, kauft mein Pa mir das neue iPhone.“

„Aha. Na, wenn das die richtige Motivation ist, sich mit Geschichte zu beschäftigen.“

„Na klar. Aber unser Geschichtslehrer ist echt ein Lauch, den kannste vergessen.“

„Was ist der? Ein Lauch?“

„Kennste das nicht?“

„Nee. Hab ich noch nie gehört.“

„Ist so ein Schimpfwort. Der sieht aber auch original so aus wie ne Lauchstange. Ich steh zwischen 2 und 3 und er meinte, wenn ich ein Referat über die Lingener Stadtgeschichte halte, komme ich vielleicht noch auf eine 2. Lingener Stadtgeschichte! Tolle Idee, wo es hier gerade eh kein anderes Thema gibt als dieses olle Stadtjubiläum.“

„Na, aber mit den Fehlern wird das nix mit einer guten Note in Geschichte.“

„Ja, Fuck. Also, ich meine so was wie Mist.“

„Englisch verstehe ich schon,“ antwortet Jutta grinsend.

Finn lacht. „Das Problem ist, ich hab gestern Abend das Referat so random mit KI erstellt. Gerade schwänze ich extra die fünfte und sechste Stunde - da war eh nur Erdkunde, braucht auch kein Mensch. Also, ich wollte hier auf der Bank in Ruhe noch mal ein bisschen üben, wie ich das am besten vortrage. Na und dann hab ich erst gemerkt, dass die blöde KI alles Mögliche durcheinandergeschmissen hat! Jahreszahlen und so. Wie soll ich das denn so schnell noch alles ändern?“

„So, so. Mit KI.“

„Normal klappt das voll gut.“

„Ist das denn erlaubt?“

„Na ja …“

„Verstehe.“

„Ich will Maschinenbau studieren. Dafür muss ich nicht wissen, wann Lingen entstanden ist.“

„Na, dass du nicht Altenpflege studieren willst, hab ich mir schon gedacht“, antwortet Jutta.

„Kann man das studieren?“

„Es gibt einen Studiengang Pflege hier in Lingen, an der Hochschule. Da geht’s aber nicht nur um alte Menschen, sondern um Pflege allgemein. Die Tochter einer Freundin studiert das.“

„Da will ich auch studieren. Aber Pflege? Damit verdient man bestimmt hinterher nichts.“

„Ganz schön materialistisch, junger Mann.“

„Wieso? Ist doch nicht unwichtig, wie viel Kohle man verdient.“

„In meinem Alter ist die wichtigste Ressource nicht Geld, sondern Zeit“, philosophiert Jutta.

Finn schaut nachdenklich auf die Ems und lässt sich mit einer Antwort Zeit. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Aber das neue iPhone hätte ich schon gern.“ Er starrt resigniert auf den Boden.

„Na, dann gib mir mal deinen Laptop.“

Fragend sieht er Jutta an.

„Zufällig kenne ich mich mit der Lingener Stadtgeschichte gut aus.“

Mit skeptischem Blick schiebt Finn den Laptop zu Jutta rüber.

Sie liest kurz ein paar Zeilen und fängt auch schon an zu tippen. „Die erste Erwähnung der Stadt Lingen im Heberegister der Abtei Werden war 975, nicht 1697. 1697 wurde die Universität (Gymna­sium academicum) durch Wilhelm III. von Oranien gegründet.“

„Hast du Geschichte studiert? Oder woher weißt du das?“, fragt Finn.

„Nein, aber ich fand Geschichte schon immer interessant. Ich habe nach der Schule eine Lehre als Köchin gemacht. Erst einige Jahre danach hab ich dann Ökotrophologie studiert.“

„What? Ökotrophologie? Hab ich noch nie gehört.“

„Frag doch mal KI“, erwidert Jutta grinsend.

„Ha, ha.“

„Aber zurück zum eigentlichen Thema. Zufällig hab ich mich letzte Woche in die Lingener Stadtgeschichte eingelesen.“

Finn will gerade fragen, warum man so etwas freiwillig macht, aber da ist Jutta schon wieder in seinen Text vertieft.

„Ha! Was ist das denn hier?“, lacht sie. „Personalpronomen? Da meint deine KI wohl Personalunion. Wilhelm II war auch König von England, Schottland und Irland.“

„Oh no!“

„Die Kivelinge wurden 1372 gegründet, nicht 1813. Da endete die französische Herrschaft über Lingen …“ Jutta liest konzentriert weiter. „1856 wurde Lingen an das überregionale Eisenbahnnetz ange-            s­chlos­sen, nicht 1756, da gab’s noch gar keine Eisenbahn. Durch den Anschluss an das Netz ist übrigens auch das Ausbesserungswerk entstanden. Das ist da, wo heute die Hochschule drin ist. Dort, wo du studieren willst.“

„Echt? Cool.“

Jutta geht Satz für Satz des Referats durch und kommentiert alle Änderungen. Nach fünfzehn Minuten verkündet sie: „Fertig!“

„Wow!“

„Na dann mal los, nicht dass du noch zu spät kommst und meine ganze Arbeit umsonst war.“

Finn schnappt sich den Laptop und schwingt sich auf sein Fahrrad.

„Vielen, vielen Dank. Das war echt klasse von dir. Vielleicht kann ich mich ja mal revanchieren.“

„Kennst du dich mit Computern aus?“

„Klar, was hat er denn?“

„Fährt nicht mehr hoch. Ich muss in einer Woche meine Kurz­geschichte für den Schreibwettbewerb einreichen.“

„Was denn für eine Kurzgeschichte?“

Jutta antwortet: „Es geschah in Lingen, dass ich einen Gymna­siasten auf einer Bank an der Ems traf …“

© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.
© Bildrechte liegen bei der Einsenderin / dem Einsender.

Marie Winnefeld

Ich wurde am Rande des Teutoburger Wal­­des geboren. Seit ich lesen gelernt habe, fasziniert mich das geschriebene Wort. Ich liebe es, fantasievoll Wort an Wort zu reihen, bis eine Geschichte zu Ende erzählt ist. Ich lebe in Osna­brück und schreibe Kurzge­schich­­ten sowie Romane.

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